Schnee

Schnee

von Orhan Pamuk

Dieses Buch kann mit Fug und Recht ein politisches Buch genannt werden. Ganz im Sinne Orhan Pamuks ist damit keine tagespolitische Agitation gemeint, sondern ein ausführliches Panorama der unterschiedlichsten Standpunkte und Lebensansichten. Es gibt viel Platz für die handelnden Figuren, um zu argumentieren, zu überzeugen, zu philosophieren. Standpunkte werden vorgetragen, Entwicklungen sind eher selten.

Als Ausgangssituation wählt Pamuk einen Klassiker: die eingeschneite Stadt, eine geschlossene Gesellschaft. Solange der titelgebende Schnee fällt, kann niemand die Stadt verlassen und niemand kommt herein. Nur ein paar Tage dauert dieser Zustand, doch die Zeit reicht für eine radikale Gruppierung, um einen Ausnahmezustand herzustellen, die Macht zu übernehmen und die eigene Vorstellung von Recht und Gesetz durchzusetzen. Es handelt sich keineswegs um eine fiktive Stadt, sondern um das reale Kars im äußersten Osten Anatoliens, kurz vor der Grenze zu Armenien.

Der Fremde, Nicht-dazugehörende, den so eine Konstruktion braucht, ist der Schriftsteller Ka. Er reist aus Deutschland an, nach kurzem Zwischenstopp in Istanbul. Er hat erfahren, dass seine Jugendliebe Ipek von ihrem Mann getrennt lebt, auch ein tagespolitischer Vorwand findet sich, über den man für eine Zeitung berichten könnte. Dabei handelt es sich um eine Serie von Selbstmorden junger Mädchen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollten. Diese „Kopftuchmädchen“ und die Auseinandersetzungen, die sie auslösen, werden den Aufenthalt  Ka´s von Anfang an bestimmen. Was er für privates Schicksal hält, wird sich als Ergebnis von politischen Machtspielen herausstellen. Allerdings wird er für diese Erkenntnis lange brauchen, vielleicht akzeptiert er dies auch erst im Moment seines Todes. 

Nachzuerzählen, was sich in den 5 Tagen zuträgt, geht am wesentlichen vorbei. Viel interessanter ist die Bandbreite an politischen und religiösen Ideologien, die Orhan Pamuk auftreten lässt, personifiziert durch einprägsame Charaktere. Da ist der Terrorist Lapislazuli mit den blauen Augen, erfolgreicher Womanizer und alles andere als der bärtige Untergrundradikale. Die beiden Schwestern Ipek und Kadife, denen erotische Hingabe zwar nicht fremd ist, aber für Lebensentscheidungen keine Rolle spielt. Für sie stehen Familienwohl oder religiöse Freiheit an erster Stelle. Ihr Vater übernimmt die Rolle des enttäuschten Demokraten, lebensmüde und verängstigt. Außerdem treten auf: der Vorsitzende der islamischen Ortspartei, dem ein faires Wahlergebnis verweigert wird, zwei junge Männer, strenggläubige Koranschüler und gefangen in den Verwirrungen von Romantik, Religion und Adoleszenz, ein manipulativ begabter Scheich, ein schwarzer Hund und: ein größenwahnsinniger, eitler, radikal egoistischer, rhetorisch versierter, durchgeknallter Schauspieler, der aus verletzter Berufsehre in die Politik zu wechseln scheint und Verheerungen anrichtet. Jeder bekommt die Gelegenheit, seine Beweggründe darzustellen, sich zu erklären, ein Glaubensbekenntnis abzulegen, und Orhan Pamuk bevorzugt niemanden, stellt alle mit derselben Hingabe und Genauigkeit vor. Man reibt sich mitunter verwundert die Augen, wenn man versucht, den verschlungenen Pfaden islamischer Religionstheorie zu folgen, eingefärbt durch die persönlichen Ziele der handelnden Personen. Überhaupt macht sich ein Gefühl der Fremdheit breit, man fühlt sich wie eingeschmuggelt unter einer Tarnkappe in eine Gesellschaft, die man nie zu Gesicht bekommen hätte, von deren Zusammenhängen und Zwängen man keine blasse Vorstellung hatte. Orhan Pamuk vermeidet eine Parteinahme, er lässt die Aussagen seiner Protagonisten stehen, und doch gelingt ihm eine klare Positionierung.  Kein politisches Ziel kann überzeugen, für das gelogen und manipuliert wird, und keine Absicht rechtfertigt Tod und Folter. Unschuldig ist niemand in dem breiten Spektrum der politisch Handelnden, auch Polizei, Presse und Armee haben zu oft zu unheiligen Mitteln gegriffen, Zweck hin oder her.

Man erfährt viel über die östliche Türkei, über Anatolien, über Radikalisierung und Eifer, über Armut als Sprengkraft und über viele verschiedene Arten, das Wort Freiheit zu verstehen. Mehr als lesenswert, wenn auch kein beschwingtes Lesevergnügen.


Category: Belletristik


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